52007Okt

Interview mit dem Ehrenmitglied Frau Dr. Ulrike Löchte

Ulrike, vor kurzem haben wir Deinen 60. Geburtstag gefeiert. Sind das auch gefühlte 60 Jahre?
In gewissem Sinn ändert sich das Lebensgefühl schon. Es gibt häufiger als früher den Blick zurück. Es gibt weniger Neugier, die mich vorwärts treibt, dafür mehr Gelassenheit, mehr Ruhe, allein schon durch das Wissen, die Kenntnisse, die ich mir im Laufe der Zeit erarbeitet habe. Es entsteht „Genuss durch Erfahrung“, es sind einfach nicht mehr so viele Fragen offen.

Insgesamt bin ich in einer Situation, die ich mit Genuss erleben kann: Ich habe zum einen meinen Arbeitsumfang reduziert, und ich kann zum anderen meine Zeit besser einsetzen. Die Arbeitsabläufe sind präziser organisiert. Ich arbeite zielgerichteter in meinen therapeutischen Vorstellungen. Ich kann Wachstum und Entwicklung mit mehr Gelassenheit beobachten und besser in meine therapeutische Arbeit integrieren.

Ich blicke natürlich auch zurück auf diese lange Zeit, von 1986 bis 2006, die ich für die Gesellschaft für Kieferorthopädie von Berlin und Brandenburg tätig war. Diese Aufgabe habe ich neben meinen drei Kindern sozusagen als viertes Kind betreut. Am Ende war mein Abschied eigentlich längst überfällig, aber die Nachfolge wollte geregelt sein. Ich genieße es jetzt zu sehen, wie umtriebig meine Nachfolgerinnen sind und wie sie die Fortbildungsarbeit weiterführen. Es werden Dinge angepackt, die nicht liegenbleiben dürfen und die uns weiterbringen. Das LKG-Symposion ist ein Beispiel und der Arnett Kurs auch.

Auf Deiner Geburtstagsfeier hat Deine Familie, haben Deine Freunde und Wegbegleiter die vielen Deiner Facetten vorgetragen und beleuchtet. Und natürlich wurde auch die Kieferorthopädin gewürdigt. Wir alle haben das Gefühl, dass Du Deinen Beruf nach wie vor gern ausübst. Was motiviert Dich immer wieder?
Mich motiviert vor allem der motivierte Patient, damit kann ich mir Ziele setzen und Ziele erreichen. Wir haben einen tollen Beruf mit guten Gestaltungsmöglichkeiten. Wir können Heilungsprozesse in Gang setzen, indem wir die Kräfte des Patienten mobilisieren, das heißt, wir können helfen, sein Potenzial zur Heilung auszuschöpfen. Das spornt an.

Wann und durch welche Beweggründe kam es zu diesem Entschluss, diesen Beruf zu ergreifen und Kieferorthopädin zu werden? Du hattest das Studium zunächst in München begonnen, später in Berlin fortgesetzt bis zum Examen 1972. Hast Du schon während des Studiums Dein Interesse an dem Fach Kieferorthopädie entdeckt?
Eigentlich galt mein Interesse mehr der Medizin als der Zahnmedizin. Ich habe vor dem Studium sogar ein Jahr der Orientierung als Krankenschwestern – Schülerin absolviert. Das Medizinstudium habe ich später zugunsten der Familienplanung nicht mehr verfolgt, aber ich wollte auch nicht tätig sein mit dem Bohrer in der Hand. An der Kieferorthopädie interessierte mich zunächst, dass es dort um die Behandlung von Kindern mit intakten Zähnen ging und nicht um restaurative Maßnahmen. Dabei war mir auch wichtig, dass wir Einfluss auf unsere Patienten nehmen können, sie anleiten und führen können zur Regulation und Gesundung. Daneben interessierte mich die Epikrise, das heißt die Analyse eines Krankheitsfalles und seine Bewertung. Und es war ein neues Fach, es gab Neues zu lernen. Ein halbes Jahr nach dem Staatsexamen wurde ich Weiterbildungsassistentin an der FU Berlin in der Abteilung von Prof. Schulze.

Kannst Du noch einmal beschreiben, wie in Deiner Zeit der Weiterbildung das fachliche Klima war in Bezug auf die Ausbildungssituation, die Lehrer, die therapeutischen Möglichkeiten und die Patientenbetreuung.
Es gab das, was – wie ich glaube – überall in Deutschland in Kieferorthopädie gelehrt und praktiziert wurde, nämlich die Behandlung mit aktiven Platten und Funktionskieferorthopädie.

Das Besondere in der kieferorthopädischen Abteilung bei Prof. Schulze war der hohe Stellenwert, der Schwerpunkt der Lehre bezüglich Ätiologie und Pathogenese. Ich denke, dazu haben wir in Berlin mehr erfahren als an anderen deutschen Universitäten. Was jedoch zu kurz gekommen ist, ist die Therapie mit festsitzenden Apparaturen.

Vor meiner Zeit gab es schon Kontakte zu Prof. Hasund, der eine kieferorthopädische Ausbildung in den USA absolviert hatte. Soweit ich weiß, wurde er 1971 oder 1972 zu einem praktischen Kurs über die Anwendung der Multibandtechnik an die FU Berlin eingeladen. Sowohl Prof. Schulze, als Leiter der Abteilung, als auch die Oberärztin, Frau Dr. Hütel, und sein späterer Oberarzt, Prof. Tammoscheit, nahmen teil und informierten sich dort. Das heißt, sie fingen ganz praktisch an Bögen zu biegen und zu torquen. In der Folge wurde Frau Dr. Hütel beauftragt, sich weiter in der Multibandtechnik fortzubilden und diese Therapieform in der Abteilung zu repräsentieren. Das war es, was ich vorfand, Frau Dr. Hütel war bis zu ihrem Weggang die Expertin für die Multibandtechnik in der Abteilung. Ich darf daran erinnern, wir kämpften in der Multibandtechnik damals auch noch mit ernormen technischen Schwierigkeiten in der Umsetzung. Wir hatten keine Brackets, es wurden alle Zähne bebändert, und wir mussten die Bänder selbst erst herstellen. Und natürlich gab es auch keine Straight-wire-Apparaturen und keine superelastischen Bögen. Das heißt, wir haben alle Biegungen 1., 2. und 3. Ordnung ausgeführt und brauchten viele Multiloopbögen in der Nivellierungsphase.

Ich selbst kann mich erinnern, dass unsere Ausbildung von vorn herein nicht komplett und umfassend war. Der Mangel war spürbar. Im nachhinein kann man sagen, es war eine Ausbildung ohne fundamentales Basis-Fachliteraturstudium, im wesentlichen unter Aussparung des Therapiekomplexes der festsitzenden Technik. Aus diesem Grund gab es diesen kleinen Kollegenzirkel. Der traf sich ab 1977 in der Praxis Löchte mit Doug Toll und staunte. Ich will damit nur unterstreichen, wir waren mit unserer fachlichen Qualifikation mehr als heute auf uns selbst angewiesen, wir mussten uns unsere Lehrer suchen. Das hast Du offenbar gut verstanden. Wie kam es zu diesem Kontakt mit Doug Toll, zu diesem Praxistreff bei Dir?
Als Douglas Toll 1976 als erster nichtuniversitärer Referent, als Praktiker also, auf Einladung von Bernd Buder nach Berlin kam und einen Vortrag vor der Gesellschaft für Kieferorthopädie hielt, sprach er über „Zusammenhänge zwischen Behandlungsergebnis und Rezidivverhütung“. Es war, und das war auch bemerkenswert, ein Vortrag über eigene Fehler bei der Behandlung und ihre Vermeidung, wie Maßnahmen zur Überkorrektur, die Beachtung und das Ausschalten myofunktioneller Probleme zum Beispiel mit Spikes und vieles mehr. So gut behandelte Fälle hatten wir noch nicht gesehen, nur Toll war immer noch nicht zufrieden mit dem Ergebnis. Ich habe dann den ersten Kontakt mit Toll weiter gepflegt. Toll kam gern nach Berlin, da er verwandtschaftliche Verbindungen nach Ostberlin hatte. So nutzte er die Gelegenheit für einen Besuch im anderen Teil der Stadt. Außerdem hatte er viele amerikanische Patienten, auch aus Berlin natürlich, Patienten, die durch die Stationierung der amerikanischen Streitkräfte in Deutschland waren. Es war einfacher, diese Patienten blieben in Berlin und kamen zu mir in die Praxis, und der Behandler kam angereist, als umgekehrt. Toll liebte zudem schon immer das Fachsimpeln im Kollegenkreis, und wir Berliner Kieferorthopäden hatten umgekehrt viele Fragen an ihn. Das passte alles gut zusammen.

Welche anderen Lehrer haben Dich geprägt?
An allererster Stelle war das Prof. Hasund. Er kam damals mit seinem Assistenten Tindlund aus Bergen nach Berlin, in der ersten Zeit ins Palace Hotel am Zoo. Bei ihm habe ich auch die Auswertung des Fernröntgenseitenbildes gelernt, die Hasund-Analyse. Der Kephalometrie hat man damals noch viel mehr Bedeutung zugemessen als heute. Viele Impulse kamen auch von Prof. Woodside, den ich auf Empfehlung von Monica Palmer 1982 in Toronto besucht habe, und wo ich an einem „case presentation day“ teilnehmen durfte.

Als weitere Lehrer, die mir viel vermittelt haben, möchte ich neben Toll und Hasund noch Björk, Pfeiffer und Grobéty, Teuscher, Ricketts, Andrews, Roth, Williams, Monica Palmer, Zachrisson und das Ehepaar Richter hervorheben. Björk ist der einzige, den ich nicht persönlich kennengelernt habe. Nicht zuletzt möchte ich Prof. Schulze erwähnen. Im nachhinein betrachtet war durch die Weiterbildung in seiner Abteilung ein gutes kieferorthopädisches Fundament gelegt worden mit guten Kenntnissen über die Ätiologie, über Wachstum und Entwicklung. Und wir lernten genau hinzusehen, unser Auge für die Mikrosymptome bei Dysgnathien zu schulen. Das weiß ich heute sehr zu schätzen.

Dies sind die Lehrer, die mir wohl am wichtigsten waren. Aber es gibt noch viele andere. Eigentlich ist durch die Suche nach Referenten im Laufe der Zeit ein sehr internationales Netzwerk entstanden, was man auch am Programm der Gesellschaft in den vergangenen Jahren nachlesen kann. Vorbild war die Münchener Gruppe mit Diernberger, Hösl und Grosse. Viele Anregungen habe ich dort auf den IOK-Tagungen erhalten. Die waren einfach neugierig, hier wurde über viele Jahre ein „state of the art“ gezeigt in sehr kollegialer netter Atmosphäre.

Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen und darauf eingehen, nach welchen Grundsätzen ich Fortbildung gesehen habe:

Fortbildung soll unabhängig sein von Firmeninteressen und unabhängig von der „Abrechenbarkeit“, also den Verdienstmöglichkeiten in der Praxis. Entscheidend ist das Lernen an sich, die Vermittlung der besten Methoden, ohne gleichzeitig die finanzielle Umsetzbarkeit im Blickfeld zu haben. Es gibt keine nationalen Grenzen für Fortbildung, wir müssen uns auf internationalem Niveau orientieren. Mein Ziel in Berlin war auch immer die Einbeziehung der Universitäten und anderer Fachgesellschaften in unser Fortbildungsprogramm.

Es gab und gibt noch heute Stimmen, die es bedauern, dass aus der Berliner Gesellschaft für Kieferorthopädie eine gemeinsame Gesellschaft von Berlin und Brandenburg geworden ist. Aber in der Wendezeit war es eine Zeit der Öffnung, unser Fortbildungsangebot wurde über die Landesgrenzen hinaus wahrgenommen. Dem wollten wir uns nicht verschließen, ich sah in dem Wachsen der Gesellschaft auch eine Chance, die es zu ergreifen galt.

Nach der Wende war der Hörsaal zu unseren Veranstaltungen übervoll, allein durch Mund- zu Mund Propaganda. So kamen auch die Brandenburger Kollegen. Sie waren neugierig und hatten großen Nachholbedarf an allem, was die festsitzende Technik ausmachte. Wir wollten sie an unseren Veranstaltungen beteiligen, und sie sollten auch unser Programm mitgestalten dürfen. Es war nur konsequent, dass sie sich dann auch im Namen der Gesellschaft für Kieferorthopädie wiederfinden mussten. Die Landespolitik hat diesen Schritt ja bekanntlich noch nicht vollzogen, aber bei uns Kieferorthopäden funktioniert der Zusammenschluss gut.

Ich selbst wurde erst spät Mitglied der Gesellschaft für Kieferorthopädie, erst 1986, und dann wurde ich gleich zur 2. Vorsitzenden gewählt. Es gab im Vorstand bis dahin viele Berührungsängste gegenüber den Kieferorthopäden aus der Praxis und einer Fortbildung außerhalb des gewohnten akademischen Rahmens. Der Vorstand war bis dahin traditionell durch Universitätsmitglieder besetzt. Es wurde mir möglich, diese Abgrenzung zur Praxis abzubauen und die Fortbildung aus der Perspektive des Praktikers neu zu beleben.

Wenn Du in Deinem Berufsleben zurückblickst, welchen Ballast hast Du abgeworfen, wovon hast Du Dich in der Behandlung und Betreuung Deiner Patienten getrennt? Oder umgekehrt, was war ein großer Fortschritt und was hast Du gern aufgenommen und in Dein Behandlungskonzept integriert?

Der größte Fortschritt in der kieferorthopädischen Behandlung ist durch die Prophylaxe ermöglicht worden. Zusammenbruch der Stützzonen oder Sechsjahr-Molaren-Extraktionsfälle kenne ich fast gar nicht mehr. 1976 haben wir mit einem kleinen Zahnputzraum angefangen. Inzwischen haben wir für unsere Patienten ein eigenes Prophylaxezentrum mit professioneller Betreuung eingerichtet. Es genügt nicht Zähne perfekt einzustellen, wenn anschließend kariöse Defekte behandelt werden müssen. Diese Prophylaxemaßnahmen haben erst die komplexe kieferorthopädische Therapie von heute möglich gemacht. Unsere Apparaturen behindern die Zahnreinigung und provozieren die Kariesentstehung. Eine kieferorthopädische Behandlung ohne systematische professionelle Kariesprophylaxe muss man heute als Behandlungsfehler ansehen. Für mich als Kieferorthopädin ist es das Schönste, wenn ich meine Patienten nach vielen Jahren als Erwachsene mit stabilem Behandlungsergebnis und kariesfreiem Gebiss wiedersehe.

Eine anderes großes Thema ist für mich das Kiefergelenk und eine wichtige Bereicherung das zunehmende Wissen um seine Funktion und seine Funktionsstörungen. Über Fortbildung bei Krogh-Poulsen, Isbjerg und Slavicek war mein entscheidender Schritt ab 1992 der Besuch der Kurse bei Bumann und Groot-Landeweer. Das heißt, über Bord geworfen habe ich inzwischen die instrumentelle Kiefergelenkdiagnostik zugunsten der manuellen Funktionsdiagnostik bzw. der manuellen Strukturanalyse. Die führe ich routinemäßig bei jedem Patienten durch, während ich die instrumentelle Analyse nur bei bestimmten, einzelnen Patienten anwende.

Funktionskieferorthopädische Apparaturen, wie z. B. den Bionator, den FR III, den Teuscher-, den van Beek-, oder den elastisch offenen Aktivator, benutze ich nach wie vor. Eine headgearfreie Praxis führe ich nicht, aber ich setze ein Headgear viel seltener ein. Auch viel seltener kommen heute bei mir Lipbumper, Palatinalbügel, die Quadhelix, Distalisierungsapparaturen und Nance-Verankerungen zum Einsatz. Die passiven „self ligation“ – Apparaturen machen eine Therapie ohne diese Behelfe möglich. Ein großer Gewinn ist für mich auch das bessere „timing“ im Zusammenhang mit der Einordnung von verlagerten Eckzähnen allein schon durch die Steuerung des Zahnwechsels und geeignete platzschaffende Maßnahmen, präventiv sozusagen. Auch der Einsatz autogener Zahntransplantate ist aus meiner Praxis nicht mehr wegzudenken und bei richtig gewählter Indikation ein sehr wertvolles und einfaches Behandlungsverfahren.

Aus Deiner langen Zeit an vorderster Fortbildungsfront, immer den Blick auf wichtige Themen und Referenten gerichtet:

Wohin geht die Kieferorthopädie? Kannst Du eine vorsichtige Prognose oder Perspektive aufzeigen, einen Trend angeben?

Insgesamt werden die Ansprüche sowohl des Behandlers als auch des Patienten in jeder Beziehung größer. Dies gilt nicht nur für das perfekte Erscheinungsbild der Zähne sondern auch für die Gesichtsästhetik überhaupt. In diesem Zusammenhang werden heute seltener Zähne (bleibende- und Milchzähne) entfernt. Bei Nichtanlage geht der Trend zum Lückenschluss und weg von der Ausgleichsextraktion. Hier machen die Verankerungsimplantate neue Behandlungswege möglich. So wäre früher ein Lückenschluss im Unterkiefer bei Unterzahl eines 2. Prämolaren ohne Ausgleichsextraktion ein Behandlungsfehler gewesen. Inzwischen ist die Extraktion aber nicht mehr nötig, da beim Lückenschluss durch die Anwendung der Implantate die Nebenwirkungen aufgefangen werden. Außerdem wird heute von uns Behandlern erwartet, dass die Behandlung keine besonderen Anforderungen an die Mitarbeit des Patienten mehr stellt, das heißt, Non-Compliance Apparaturen sind angesagt, und sie funktionieren.

Was rätst Du jungen Kollegen, wie sie sich im Fortbildungsdschungel am besten orientieren können ohne sich zu verzetteln, ohne der letzten „Modetherapie“, der neuesten xy- Apparatur oder den Versprechungen der Industrie aufzusitzen?
Eine gute Möglichkeit ist es, die Vorträge der Gesellschaft für Kieferorthopädie zu besuchen.

Wir haben ja hier in Berlin und Brandenburg mit unserer Gesellschaft für Kieferorthopädie die idealen Bedingungen für eine „continuing education“. Genau dies war immer mein Leitmotiv. Hier passt der Vergleich mit einem Ruderer in einem Boot: Wer aufhört zu rudern, fällt zurück. Wir können hier in Berlin am Fortbildungsgeschehen gut dranbleiben. Bei diesen Abendveranstaltungen im kleinen Kollegenkreis bekommt man einen ersten persönlichen Eindruck vom Referenten. Man kann sich selbst ein Bild machen, um dann zu entscheiden, ob man das angesprochene Thema oder die gezeigte Technik im Rahmen eines Kurses eventuell vertiefen möchte oder nicht. Das gleiche gilt auch für Kongresse, Symposien, die Jahrestagung. Es ist eine Möglichkeit neben der Fachliteratur, wie man Referenten kennenlernen kann.

Was ist Deine bevorzugte Quelle als Fachlektüre?
Früher waren das vier Zeitschriften:

Die Informationen aus Orthodontie und Kieferorthopädie, das Journal of Clinical Orthodontics, das American Journal of Orthodontics and Dentofacial Orthopedics und die Fortschritte der Kieferorthopädie. Mit den beiden amerikanischen Zeitschriften habe ich mein Fachenglisch gelernt, habe aber inzwischen deren Lektüre aufgegeben. Außerdem gehe ich jetzt lieber zu Vorträgen, oder ich besuche gezielt Kurse.

Welche nicht fachliche Lektüre beschäftigt Dich? Bist Du auch sonst eine „lesende Person“? Oder bevorzugst Du andere Medien?
Im Alltag lese ich regelmäßig zwei Zeitungen, im Urlaub auch Bücher. Ansonsten mag ich alles vom Theater über Tanz bis zur Oper, ich nehme alles wahr.

Unser Berufsalltag ist, eine möglichst umfassende Diagnose zu stellen und darauf basierend eine meist jahrelang dauernde Therapie zu entwickeln, zu der wir unsere Patienten permanent motivieren müssen. Wir selbst müssen unser angestrebtes Ziel stets in unserem kritischen Auge behalten. Erfolg oder Misserfolg oder etwas dazwischen ist meistens direkt ablesbar, und wenn es in Form eines Rezidivs auftritt. Wir sehen selbst, was wir tun. Dies kann uns als Behandler belasten.

Umgekehrt sehen wir auf Fortbildungen sehr viel Perfektion, tolle Bilder von idealen Okklusionen, idealen Zahnbögen, Patienten mit perfekter Ästhetik.

Ist dieser Anspruch in der Praxisroutine manchmal belastend, das Gefühl, dem nicht zu genügen?
Ja, natürlich, das kenne ich auch. Da hilft unter anderem nur eine konsequente Fehleranalyse. Und nach jeder richtigen Erkenntnis und Feststellung eines Mangels, vermittelt zum Beispiel durch eine unserer Veranstaltungen, kann das Umsetzen am Montag danach in kleinen definierten Schritten beginnen.

Wir können uns fortbilden, wir benutzen hocheffiziente Materialien und Techniken, und doch gibt es immer wieder Unterschiede im Ergebnis.

Was unterscheidet den überdurchschnittlichen, den herausragenden Kieferorthopäden vom Durchschnittsbehandler? Gibt es Deiner Meinung nach auch noch das Quäntchen Intuition, das nicht Erlernbare?
Ich glaube, den herausragenden Kieferorthopäden zeichnen folgende Merkmale aus:

  • Er muss fähig sein, Patienten zu überzeugen, kontinuierlich während der ganzen kieferorthopädischen Behandlung.
  • Er muss seine Arbeit und seine Ergebnisse selbstkritisch bewerten.
  • Er muss perfektionistisch arbeiten, und
  • er muss Zielvorgaben formulieren. Dabei ist es wichtig, am Beginn der Behandlung die Hauptanliegen des Patienten zu sortieren, um dann festzulegen, was wir verändern können und was nicht in unseren kieferorthopädischen Bereich gehört. Es müssen realistische Ziele sein.

An welches Ereignis aus der Zeit der „Löchte – Ära“ während Deiner Zeit als erste Vorsitzende der Gesellschaft für KFO BB denkst Du besonders gern zurück?
Die spannendste Zeit war sicherlich die Zeit des Umbruchs, die Wendezeit und das Zusammenfinden von Ost und West. Schon 1987 habe ich aktiv begonnen, erste Kontakte zu den Kollegen in Ostberlin aufzunehmen. Auch dort gab es einen kieferorthopädischen Arbeitskreis und die kieferorthopädische Abteilung der Charité mit Prof. Charlotte Opitz als Leiterin. Ohne die freundliche Aufnahme durch sie wäre vieles nicht möglich gewesen. Wir sind in dieser Zeit Freundinnen geworden, das zählt zu meinen besonderen Erlebnissen. Sie hat es ermöglicht, dass ich zu einem Vortrag über den Teuscher-Aktivator eingeladen wurde. Später hat mein Mann in Ostberlin über seine Erfahrungen mit Autotransplantaten referieren können. Das waren unsere ersten Schritte der Annäherung. Dieser Prozess setzte sich fort, noch später hat zum Beispiel Björn Zachrisson seinen Kurs an zwei Standorten abgehalten, am Pfaff im Westen und in der Charité im Sauerbruchsaal im Osten der Stadt. Wir alle waren wie euphorisiert, einschließlich der Referenten. So kam es unter anderem zu der Geschichte mit Prof. Gianelly, der am Tag vor dem Mauerfall als Referent im Westteil Berlins über „Moderne Distalisierungsverfahren“ sprach. Am 09.11.1989 kehrte er nach Boston zurück, der Tag an dem die Mauer geöffnet wurde. Seitdem wird erzählt, sein Besuch in Berlin wäre die Initialzündung für den Fall der Mauer gewesen. So entstehen Wendegeschichten.

Ich selbst bekam am Sonntag darauf meinen ersten „Ostgegenbesuch“ in Form von Charlotte Opitz mit ihrer Familie, die spontan zu uns nach Lichterfelde gereist waren. Wir feierten dann einen Sonntag der Wiedervereinigung rund um einen großen Topf selbstgekochter vegetarischer Suppe.

Gehen die Jubiläumsfeiern der Gesellschaft 1998 und 2003 auf Deine Initiative zurück?
Ja, ich wollte gern die Tradition der Gesellschaft für Kieferorthopädie durch eine Feier unterstreichen und deutlich machen. 1998, die 45-Jahr Feier, bot auch eine Gelegenheit der Ost-West-Begegnung in einem festlichen Rahmen. Daneben eröffnete es die Möglichkeit zur festlichen Ehrung, so wurden 1998 Prof. Bredy und 2003 Prof. Opitz zu Ehrenmitgliedern ernannt.
Du hast einen Westfalen zum Mann, Du selbst bist in Verden an der Aller in Niedersachsen geboren. Wie fiel die Entscheidung für Berlin? Ist das Heimat geworden? Wo sind Deine Wurzeln?

Ja, die Entscheidung in Berlin zu bleiben stand überhaupt nie zur Diskussion. Wir waren ja froh, der Provinz entronnen zu sein. Die Inselsituation nahmen wir in Kauf, wohl bewusst, dass dies mit Einschränkungen, einer Art Eingeschlossenheit verbunden war. Die Vorteile in dieser Stadt zu leben aber überwogen, die Freiheit der Großstadt, die Toleranz gegenüber jeder Art von Anderssein, im wesentlichen eine Stadt ohne Standesunterschiede. Berlin ist ein Synonym für alles dies. Hier zu leben ist ein Privileg. Dieser Geist strahlte auch in das universitäre Leben aus. Ich kann das gut vergleichen, da ich bis zum Physikum in München studiert habe, wo in alter Tradition die Studenten nach überholtem Reglement sehr gegängelt wurden, wo Hierarchien anders als in Berlin fortbestanden. Als positives Erlebnis in der Zeit meines klinischen Studiums in Berlin empfand ich die Vorlesung von Prof. Stellmach, hier sprach jemand mit der Autorität eines großen Lehrers, didaktisch beeindruckend. Seine Vorlesungen wurden allgemein nicht versäumt, hier konnten wir an klinischen Beispielen so viel lernen. Seine Autorität als Kapazität in seinem Fach wurde ohne Einschränkung respektiert. Ich habe das bewundert.

Berlin war im übrigen auch ein Ort der neuen Möglichkeiten, des Experimentierens mit neuen Formen der Praxistätigkeit. Das Modell der „Gruppenpraxis“ wurde hier verwirklicht. Ich selbst bin seit über 30 Jahren in einer Praxisgemeinschaft mit zwei Zahnärzten verbunden. Für uns wurde diese Form des Zusammenarbeitens zu einem bewährten Modell der geglückten Praxistätigkeit.

Ulrike, ich denke, Du bist ein Teamarbeiter mit Führungsqualität. Kannst Du Dich damit identifizieren, oder wie würdest Du Dich charakterisieren?
Der Teamgedanke ist mir wichtig. Ich mag den aufgeklärten Mitarbeiter im Team, der Interesse hat gut zu sein und der am Ergebnis mitwirken möchte. Ich finde Mitarbeiter mit Eigeninitiative wichtig, Persönlichkeiten, die sich im Team für das gemeinsame Ziel einsetzen. Vielseitigkeit gehört auch dazu. Wir haben das Glück, mehrere uns langjährig verbundene Mitarbeiter im Praxisteam zu beschäftigen, die sich mit uns mitentwickelt haben. Es sind dies Mitarbeiter, die darüber hinaus auch eigenständig viel aus ihrem Beruf gemacht haben durch Weiterqualifikation im Prophylaxe- oder Verwaltungsbereich.

Im übrigen lassen sich komplexe Behandlungsfälle nur im Team lösen, in diesem Sinne ist das meine bevorzugte Arbeitsweise.

Gibt es Dinge, die Du gern delegierst oder die Du gern auf die lange Bank schiebst. Welchen unliebsamen Aufgaben entziehst Du Dich am liebsten, oder bist Du so diszipliniert, wie Du erscheinst?
Wir haben natürlich auch eine Arbeitsteilung in der Praxis. Alles was mit Abrechnung, mit dem Steuerbüro oder technischen Fragen zu tun hat, zählt nicht zu meinen bevorzugten Aufgaben. Ich bin stattdessen für die turnusmäßige Mitarbeiteraufklärung verantwortlich. Außerdem sind meine Antennen gut zum Orten der Stimmungslage im Team. Ich kümmere mich darum, dass das „Wohlfühl-Gefühl“ nicht zu kurz kommt.

Vor kurzem gab es einen Bericht im Tagesspiegel mit der Überschrift: „Auf wen hört Klaus Wowereit?“ Meine Frage: Auf wen hört Ulrike Löchte?
Auf mich selbst zuerst. Das stimmt natürlich nur zum Teil. Meine Ratgeber sind auch mein Mann, meine Freundin, meine Kinder und andere Vertrauenspersonen im Freundeskreis.

Insgesamt, zurückblickend auf Deinen 60. Geburtstag, hast Du es verstanden, Beruf, Familie, Praxisgemeinschaft, Hobbys und Ehrenämter ganz gut unter einen Hut gebracht zu haben, ein Leben im Ganzen zu führen.

Gibt es etwas, was Dir noch fehlt, was Du gern noch machen möchtest, eine Idee, eine Sehnsucht, einen Traum?
Den Traum erfülle ich mir jetzt gerade, es ist mein „italienischer Traum“. Ich tauche ein in die Sprache, die Geschichte, die Kultur Italiens. Ich liebe die Landschaft, die Menschen, das Essen, die Reisen dorthin, die Besuche bei meiner Tochter zuletzt in Rom, die Freundschaft mit ihrer Gastfamilie. Ich fühle mich sehr bereichert, es schafft ein Gegengewicht zur meinem kieferorthopädischen Leben.

Das Gespräch führten Dr. Ulrike Löchte und Dr. Susanne Christiansen-Koch im Oktober 2007.