X-Effekt – geklebte Retainer, die nicht retinieren
Meist werden nach abgeschlossener kieferorthopädischer Therapie Lingualretainer eingesetzt, um Stabilität und Ästhetik des erreichten klinischen Zustands zu erhalten. Diese etablierte Methode weist im Allgemeinen eine sehr gute Zuverlässigkeit auf und hält die Zahnpositionen auch über einen langen Zeitraum stabil. In den letzten Jahren erschienen aber immer wieder Publikationen, die über ‚Unexpected complications of bonded mandibular retainers‘ berichten. In diesen klinischen Studien oder Fallberichten wurden Fälle gezeigt, bei denen sich oft einzelne Zähne trotz eines geklebten Lingualretainers aus dem Zahnbogen heraus bewegt haben, ohne dass eine logische biomechanische Erklärung für diesen ‚X-Effekt‘ gegeben werden konnte. In einigen Fällen traten so extreme Rotationen um die Retainerachse auf, dass die Wurzeln sichtbar aus dem Knochen heraustraten. In dieser Studie haben wir mit Finite-Elemente-Methoden verschiedene biomechanische Einflussgrößen analysiert, die zu derartigen ‚unerwarteten Komplikationen‘ beitragen können. Wir konnten zeigen, dass insbesondere die Steifigkeit des Retainers dazu führt, dass dieser regelrecht als eine neue Rotationsachse des Zahns wirkt und so den X-Effekt erst ermöglicht.
Kräfte und Momente bei Alignersystemen
Heutzutage stehen dem Kieferorthopäden eine Vielzahl unterschiedlicher Behandlungstechniken und eine nahezu unüberschaubare Materialauswahl für die Behandlung von Zahnfehlstellungen zur Verfügung. Neben den Draht/Bracket-Systemen der Lingual- und Labialtechnik finden seit über 15 Jahren Schienen- oder Alignersysteme eine ständig wachsende Akzeptanz. Dabei wird es zunehmend schwieriger, die Wirkung der jeweiligen krafterzeugenden Elemente zu beurteilen und sicherzustellen, dass im gesamten Verlauf der Behandlung die eingesetzten Kräfte und Drehmomente die physiologischen Grenzen nicht überschreiten. Die Situation wird zusätzlich dadurch erschwert, dass besonders bei der Einführung neuer Techniken und Komponenten seitens der Hersteller deren Eigenschaften primär im Hinblick auf optimales Marketing präsentiert werden, wobei häufig wissenschaftliche Hintergrundanalysen fehlen. In diesem Beitrag werden zunächst einige prinzipielle mechanische und biomechanische Grundlagen krafterzeugender Elemente sowohl bei Bracket/Bogen-Systemen als auch bei Alignereinsatz betrachtet. Anschließend werden die Kräfte und Drehmomente verschiedener Alignermaterialien anhand systematischer Untersuchungen verglichen sowie die Effektivität von Zahnbewegungen bei Alignereinsatz in klinischen Studien analysiert.
Professor Dr. rer. nat. Christoph Bourauel
Lebenslauf:
1980 – 1987 Studium der Physik an der Rheinischen Fried.-Wilh.-Universität, Bonn
1987 – 2005 Leitung des Labors für Experimentelle Kieferorthopädie, Poliklinik für Kieferorthopädie, Universität Bonn
1992 Promotion zum Dr.rer.nat.
1998 Habilitation und Venia Legendi in Experimenteller Zahnheilkunde und Biomechanik, Medizinische Fakultät, Universität Bonn
2005 Ernennung zum Außerplanmäßigen Professor
2006 Ruf auf die Stiftungsprofessur für Oralmedizinische Technologie, Universität Bonn
2014/2015 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biomechanik
Wissenschaftliche Schwerpunkte: Experimentelle und numerische Biomechanik in der Zahnheilkunde, Kieferorthopädische Werkstoffkunde, Implantatbiomechanik, numerische Modelle des Knochenumbaus, über 240 Publikationen in internationalen Fachjournalen.